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Würfeln am Weihnachtstisch

Weihnachten. Familienfeier. Meine schreiende Cousine im Ecken des Wohnzimmers; sie darf keine Bonbons mehr naschen. Um sie zu trösten, schlägt meine Tante vor, die Geschenke endlich auszupacken. Je älter ich werde, umso weniger interessieren mich die farbigen, bemusterten Würfel unter dem Tannenbaum. Was mich mehr interessiert ist der Abfall, der danach entsteht und sich haufenweise türmt. Jedes Jahr wiederholt sich dieser Vorgang. Meine Geschenke verpacke ich in Zeitung. "Sustainable-Giftwrapping", so nennt sich das. Vielleicht sieht es nicht so schön aus, wie das grell-rot, in den Augen schmerzenden Geschenkpapier, das eh nur dem Bedürfnis nach Ästhetik weihnachts-besessener Menschen dient. Wenn mensch will, können ja auch Farbstift, Aquarell oder Schleife für einen farbigeren Augenschmaus dienen.

Jede*r Deutsche verursacht im Jahr rund 226,5 Kilo Verpackungsmüll. Da schadet es wohl nicht, auf das glitzernde, folierte, umweltschädliche Geschenkpapier zu verzichten und auf nachhaltigere Alternativen umzusteigen.

Ich würde ja gerne dieses Thema anschneiden und im Familienkreis eine spannende Diskussionsrunde starten, doch gleichzeitig schaudert es mich vor diesem Gedanken. Nachhaltigkeit, Klimakrise, Klassenkampf, Queerness, Feminismus, und, und, und; ich könnte noch so viel mehr aufzählen. Meine Familienangehörigen kümmern sich nicht um LGBTQ+- Rights, um die Aufstände in Iran, die tausenden Hinrichtungen, die Mütter, die ihre Kinder verlieren oder die Frauen in Afghanistan, die sich verstecken müssen, nicht mehr studieren dürfen, die Korruption der Fifa, die Verstösse gegen Menschenrechte in Katar. Nein, viel mehr würde diese Shitshow mit Ball und Spielern im Fernsehen gestreamt- an Heiligabend. Vielen Dank dafür. Und währenddessen fliessen alle Gelder schön in die Hände der Katarer-Regierung.

Ich lehne mich zurück in meinen Sessel und beobachte wie die Augen meiner Cousine aufleuchten. Sie wirft sich auf ihre Knie und schnappt sich ihren Würfel. Das Geschenkpapier fliegt in Fetzen. Gierig, sabbernd, grinsend, wie ein Raubtier auf Fleisch-Entzug, reisst sie ihr Geschenk auf. Darin befindet sich: Ein Ring-Light. Ich muss lachen. Aber in mir sieht es alles anders als heiter aus. Ich bin wütend, ich bin empört. Ein Ring-Light zu Weihnachten?! Für Selfies und Tiktoks? Damit der digitale Scheissdreck schon im Kindesalter gefördert werden muss. Damit Zweitklässler*innen vor der Kamera früh genug lernen zu posieren, sich zu profilieren und so vorteilhaft wie möglich darzustellen. Um der gesamten, kommenden Generation eine verzerrte Selbstwahrnehmung zu garantieren. Danke, Ring-Light.

Aber ich halte meinen Mund und freue mich für sie. Ich schaue in die Gesichter meiner Verwandten und frage mich, was ich mit ihnen genau gemeinsam habe. Ausser des Blutes, das wir teilen.

Vielleicht schauen sie mich an und fragen sich dasselbe. In ihren Augen bin ich die radikale, zu feministische, belehrende Wichtigtuerin, mit unrasierten Achselhaaren, den lumpigen Second-Hand Kleidern, die sich nur damit beschert, andere zu korrigieren und das Gendern beizubringen, ihr eigenes Wissen abwälzt, in der Hoffnung, dass jemensch einen Funken davon auffängt und dabei das Feuer im Inneren entfacht.

Ich kämpfe nicht, um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken oder um mich über andere zu erheben. Vielmehr möchte ich meine Stimme erheben, weil ich eine habe. Ich möchte meine Privilegien nutzen, um anderen zu helfen, die nicht in der Lage sind, sich selbst zu helfen. Es ist nicht viel, auf die Strasse zu gehen und Parolen zu rufen. Doch es ist ein erster Schritt, ein notwendiger. Viel lieber tu ich das, als zurückzulehnen und im eigenen Elend der Bequemlichkeit unterzugehen.





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