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Den Winter, den hasse ich

  • giselep22
  • 7. Jan. 2023
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 13. Jan. 2023

Sie mag es allein zu sein. Er nicht. Er braucht sie. Sie ihn nicht.

Ich wäre so gern am Meer. Jenseits meines Umfelds, meiner Arbeit. Frei. Ich will frei sein. Meine Pflichten von mir abwerfen. Wie ein schweres Gewand, das einen runterzieht und schwächt. Danach fliege ich davon wie ein flinker Vogel, der eingesperrt in seinem Käfig verweilen musste und dessen Tür nun offen steht. Seine Flügel im Rhythmus des Windstosses auf- und abschlagend, sein Trillern eine Stimme in der Sinfonie der Natur, seine Farben nun glänzend und leuchtend hell, nicht mehr fade durch das Grau des Gittergerüsts. Doch wann wird sich meine Käfigstür öffnen? Muss ich den Schlüssel dazu selbst finden oder liegt mein Schicksal in anderen Händen?

Meine Gedanken schweifen zu sehr ab.

Der kühle Wind schleicht sich durch die Eingangstür, flüsternd, doch laut genug, um mich aus meinen Träumen aufzuwecken. Er umweht meinen Kopf, setzt sich in den Haaren fest, kriecht den Nacken hinunter. Reflexartig schlingen sich meine Hände um die warme Kaffeetasse. Der Nacken ist leider nicht so flexibel. Was für ein komisches Bild es doch wäre, wenn sich anstatt der Hände, die Hälse der Menschen um die warmen Tassen schlingen würden. Dafür müssten sie so lange sein, wie die der Giraffen. Das Café verwandle sich in einen Dschungel, in einen äusserst bunten. Auf dem weinroten Sofa da links, sässe eine Giraffe mit eckigen Brillengläsern und grünem Schal. Geradeaus von mir sähe ich dicke Giraffenlippen, geschminkt in den Farben reifer, blutiger Orangen. Und da hinten sehe ich ihn. Nicht als Giraffe, sondern als Menschen. Als den schönsten Menschen, den ich kenne. Seine gelockten Haare, dunkel und wuschelig. Ich möchte mich in sie hineinlegen. Ich möchte in seinen Armen liegen, ich möchte sein Herz schlagen hören, ich möchte zurück zu ihm, seinen Duft aufsaugen, diesen Duft, der mich nie ganz verlassen hat. Diese altbekannte Sehnsucht erfüllt mich wieder. Sie wächst und wächst und droht mein Inneres zerplatzen zu lassen. Es schmerzt, doch es ist ein schöner Schmerz, ein höllisch schöner Schmerz. In meinem Kopf weht ein stürmischer Orkan, in meiner Brust gibt der Puls den Takt zu einem rasanten Trommelspiel an. Ich wage mich nicht ihn länger anzusehen. Ich habe Angst vor seinen Augen, Angst, dass sie plötzlich auf die meinen treffen. Und doch kann ich mich von seinem Anblick nicht lösen.

Ich spüre, wie meine Wangen feucht werden, nur ganz leicht, und höre, wie die Tränen in meinen Kaffee plumpsen, nur ganz leise. Ich sehe, wie sie im Schaum kleine Löcher hinterlassen, wie sie in den Grund sinken. Als würden sie meine ganze Schwere und Last in sich tragen. Die Tropfen gefüllt mit dem Schmerz, meinen Körper verlassend. Weinen soll doch erlösen. Ich liebe es zu weinen. Und deshalb liebe ich ihn doch auch so sehr. Noch immer. Denn wegen ihm habe ich Bäche geweint und Flüsse, die sich durch Tal und Gebirge schlängeln, die Landschaft verändern und erblühen lassen. Mein ganzes Leid umgewandelt in Blumen und Sträucher, Tiere anlockend, Fische und Frösche, Molche, Kröten und Krebse.

Ich stehe auf. Setz mich wieder hin. Ich weiss nicht, was mit mir anfangen. Ich glaube, ich sollte aufs Klo. Und stehe wieder auf. Meine Beine wie Gummi, doch mein Oberkörper trägt sich standhaft, selbstsicher. Mein Gesicht verstecke ich nicht, auch wenn meine Augen geschwollen sind. Weinen macht schön, finde ich.

Meine Stiefel klacken auf dem marmorierten Boden. Ich stosse die Tür auf und wende mich direkt einem der Spiegel zu und bleibe stehen. Still. Ich betrachte mein Erscheinungsbild. Ob er mich wohl gesehen hat?

Nein, das hat er bestimmt nicht. So ist es auch besser und so soll es sein. Ich bleibe ihm geheim. Ich wasche meine Hände und beschliesse zusammenzupacken und mich in ein Café nebenan zu setzen. Lieber gehe ich ihm aus dem Weg. Mit einem festen Entschluss trockne ich meine Handflächen an den Hosen ab, sie hinterlassen einen dunklen Abdruck und ich kann die Nässe durch den Jeansstoff dringen spüren. Meine Hände habe ich erst gerade sauber geputzt, ganze dreissig Sekunden lang und jetzt muss ich doch die fettige Türklinke berühren und sogar daran ziehen. Doch dann rieche ich den Geruch des Kaffees wieder, der mich stillt und biege um die Ecke ab, nur um den Augen entgegenzublicken, vor denen ich mich doch so fürchtete. In meinem Inneren explodiert es, nein, ich implodiere. Ich spüre, wie mein gesamter Körper in sich zusammensackt. Die Macht, die diese zwei braunen Augen auf mich ausüben, dass sie meinen Mechanismus dermassen bremsen, mein Herz zum Stillstand bringen, mir die Sauerstoffzufuhr verhindern, meine Muskeln schwächen und meinem Gehirn die Fähigkeit nehmen den nächsten Schritt zu überdenken. Ich stolpere zu Boden.

Und dann spüre ich ihn wieder. Seine Arme, die sich um meine Hüften legen und mir Halt geben. Seine Finger, die sich um meine legen, um mir aufzuhelfen. Seinen Geruch, der in meine Nase steigt, mich benebelt, wie ein Rauschmittel. Und ich spüre wie es unter meinem Hemd zu glühen beginnt und sich dieses Glühen über meine ganze Brust verteilt, hinaufklettert und meine Ohren wärmt, und meinen Nacken, ohne, dass sich dieser um eine warme Tasse schlingen muss. Dieses Glühen, das nur er bewirken kann. Und ich lasse mich fallen, in eine Trance seiner Anwesenheit. Nun bin ich fort. Doch dann öffnet sich sein Mund und daraus entspringt die schönste Musik. Wie ein Lied, das vergessen und dann eines Tages per Zufall im Radio wiedergefunden wurde und so viel in einem erweckt. Nostalgie. Ich liebe sie. Diese raue Stimme, die mich doch so besänftigt. Ich bin so fokussiert auf seine Melodie, auf seinen Klang, dass mein Kopf die ausgesprochenen Wörter gar nicht registriert. Doch das scheint meinen Retter nicht zu stören, denn er hebt mich auf, und jetzt bin ich gezwungen meinen Verstand wachzurütteln, ihn aus der Hypnose aufzuwecken, mit schrillen Pfeifen und dröhnenden Alarmen. Mein Blick verschärft sich, mein Herz beginnt wieder zu schlagen. Ich spüre meine Glieder, das Kribbeln in meinen Füssen und rappele mich auf. Das Einzige, das bleibt, wie's vorher gewesen ist, ist das Glühen unter meinem Hemd und es breitet sich aus, noch immer. Ich hoffe er spürt meine Hitze nicht, sonst würde ich mich schämen, doch es ist unmöglich, denn ich brenne für ihn. Da stehe ich nun vor ihm, mein Kopf gesenkt und betrachte seine Schuhe. Sie gefallen mir. Vor seinem Blick hüte ich mich, denn ich wage es nicht noch einmal mich in ihre Gefahr zu bringen. Wer weiss, was seine Augen, diese teuflischen, bösen, gutmütigen, goldigen Augen wieder mit mir anrichten. Und dann sagt er meinen Namen, ganz zärtlich, und ich beginne zu schmelzen. Seine eine Hand legt sich auf meine Wange, er bringt meinen Blick näher und näher zu seinem, seine andere Hand, gräbt sich leicht in meine Haare und ich kapituliere, ich gebe auf und schmelze weiter und weiter, bis ich nur noch ein Häufchen Brei bin, das zu Boden sinkt.

Ich schaue ihm in die Augen, sage auch seinen Namen, so wie ich es immer getan, wenn ich ihn geliebt habe, und geliebt habe ich ihn so wie keinen anderen Menschen auf dieser Welt, noch nie habe ich so stark geliebt und er weiss es. Seine rechte Augenbraue zuckt ganz leicht, wie sie es immer tut, wenn er fühlt, mich fühlt, meine Liebe zu ihm und seine Liebe zu mir, denn ich weiss, dass er mich liebt, und nie aufhören wird mich zu lieben, genauso wie ich nie aufhören werde ihn zu lieben. Doch ich darf nicht bleiben. Ich muss fort. Ich berühre seine Hände, noch ein letztes Mal, das sei mir geschworen, und löse sie von meiner Wange und meinem Nacken, überlasse ihnen wieder ihr eigenes Schicksal. Sie sollen ihren eigenen Platz finden, doch das wollen sie nicht. Und in Wahrheit will ich es doch auch nicht, verdammt nochmal. Aber ich muss. Deshalb wende ich mich ab von ihm, klacke mit meinen Stiefeln zurück an den Tisch, räume hastig alles zusammen, sodass er mich ja nicht aufhält. Ich ziehe meine Lederjacke an, wickle mir den Schal um und schreite in Richtung Ausgang. Kurz vor dem Hinaustreten reagiert mein Körper wie von selbst, ohne jeglichen Befehl und ich drehe mich um, meine Augen suchen nach seinen. Ich erfasse sie schnell, denn er hat sich keinen Millimeter bewegt, nur gedreht hat er sich, genauso wie ich und seine Augen schauen mir direkt entgegen, sie flehen mich an, nicht fortzugehen, ihn nicht nochmal zu verlassen. Ich sehe, wie er zittert und er wimmert und mein Herz wird schwer und noch schwerer, es kann nicht einmal zerspringen, der Schmerz krümmt es zu sehr, und ich kann nicht mal weinen, denn die Last ist zu gross, ich müsste Beton weinen, und Beton verschönert die Landschaft nicht, sondern macht sie nur karg und einsam und kühl. Und ich kehre ihm den Rücken zu und steige hinaus, in die Kälte. In den Winter, den ich doch eigentlich so hasse.


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